VOM VOLLENDETEN URKNALL

Ist die Erstfassung einer Sinfonie, die der Komponist in weiteren Fassungen bringt, unvollendet? Die vielen Fassungen der Bruckner-Sinfonien haben unterschiedliche Beweggründe. Vollendung ist beim Genius Loci kein betonierter Status. Bruckner, der auf seinen raren Touren tausende Menschen mit seinen Orgelimprovisationen in den Bann gezogen hat, wohnt der Habitus eines Jazzmusikers inne, der auch in seinem kompositorischen Schaffen Ausdruck findet, in dem er heute diese und morgen eine andere Version desselben Themas anbietet.

Die Erstfassung der Dritten, die der Dirigent und Musikwissenschaftler Peter Gülke als „schwieriges Durchbruchswerk“ bezeichnete, hat mit 2052 Takten die größte Ausdehnung aller seiner Sinfonien. In diesem Kulminationswerk steckt unendlich viel musikgeschichtliche Vergangenheit - man denkt dabei sofort an Beethoven - oder aus Bruckners direkter Gegenwart, und hört im vierten Satz die verrückten Offbeats aus Hector Berlioz’ Symphonie fantastique durchschimmern. Natürlich entdeckt man mehr oder weniger offensichtlich Klänge von Richard Wagner, dessen Tannhäuser und Tristan und Isolde wörtlich zitiert werden. Wagner hat Bruckner diese Sinfonie neben der Zweiten zur Widmung nach Bayreuth angetragen. Der „Meister aller Meister“ entschied sich zur Freude Bruckners für die Dritte, die mit der „Annullierten Sinfonie“ (Nullte) und dem Torso der Neunten die Tonart d-moll teilt. (Wieder so ein Bezug zu Beethoven, dessen 9. Sinfonie in eben dieser Tonart steht.) Bruckner erklärte seine Dritte noch zwei weitere Male für „fertig“, wie er es am Ende der Fassungen im Manuskript schriftlich anmerkt. In dieser Musik steckt aber vor allem ungeheuer viel Heimat und Zukunft. Vom Landler braucht man hier im Innviertel gar nicht lang erzählen.

Der Avantgardist Bruckner wendet in dieser Sinfonie serielle Kompositionstechniken an, die erst im 20. Jahrhundert zum Ausbruch kommen, wie er vielleicht genau selbst mit dieser „Ur-Dritten“ umfassend und genial aus sich herausgebrochen ist. Pure organisierte, zukunftsweisende Anarchie mit starker Bodenhaftung, aber was greife ich angesichts dieses abenteuerlichen Sinfonienwunders hilflos zu Wörtern. Sie werden von ihr selbst ergriffen, von der Dritten, diesem Urknall in Bruckners Schaffen!

Norbert Trawöger
leitet die Dramaturgie & Kommunikation des BOL

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