DIE MUSIK DES „SACRE“ STELLT ETWAS NOCH NIE DAGEWESENES DAR

Foto: Sakher Almomen

Markus Poschner, Chefdirigent des Bruckner Orchesters Linz im Gespräch mit Tanzdramaturg Thorsten Teubl

Was muss eine musikalische Deutung von Le Sacre du printemps heutzutage?
Dazu möchte ich gleich Strawinsky zitieren, der sinngemäß sagte: „Ich möchte, dass meine Musik nicht interpretiert, sondern ausgeführt wird“. Das ist ein starker Satz und entbehrt auch nicht einer gewissen Ironie, denn wenn man Strawinskys eigene Aufnahmen anhört, stellt man fest, dass er sich meist selbst über alle seine eigenen Anweisungen hinweggesetzt hat. Soviel zum Thema „Werktreue“. Die Partituren sind übersät von musikalischen Hinweisen zu Tempo, Artikulation usw. – man hat manchmal den Eindruck, das schnürt einem die Luft ab. Das ist wie bei Gustav Mahler, der Dirigent und Komponist war und den Leuten genau hineinschreibt, was sie zu tun haben, bis hin zu den Bogenstrichen – es bleibt wirklich kaum eine Frage offen. Aber gleichzeitig ist es auch die wichtigste Inspirationsquelle und Landkarte hin zum Kunstwerk für uns Dirigent*innen. Die Musik von Le Sacre du printemps stellt etwas noch nie Dagewesenes dar, sie klingt auf der einen Seite nach Maschinenraum, auf der anderen nach tief empfundener Volksmusik.

Le Sacre du printemps war bei der Uraufführung ein riesiger Skandal. Die Frage ist, warum?
Ich glaube, es ist ein Missverständnis, dass die Musik, so radikal sie sicherlich ist, allein der Stein des Anstoßes war. Vor allem die neuartige Choreografie von Nijinsky, der alles, was den Parisern lieb und wichtig war, zertrümmert hat, von sackartigen Kostümen bis Stampfen und Hüpfen auf dem nackten Bühnenboden, spaltete das Publikum. Es war wirklich das krasseste Gegenteil von französischem Tutu-Ballett. 

Vielleicht ein kalkulierter Skandal?
Natürlich bricht auch die Musik mit Althergebrachtem und forciert eine gewisse Künstlichkeit, nahe am Lärm – er sprengt die Grenzen der bis dahin wahrgenommenen Musik, was allerdings auch schon andere vor ihm gemacht haben, z. B. Schönberg auf dem Gebiet der Harmonie. Die Zeit war reif für großes Experimentieren.

Foto: Sakher Almomen

Sind die Metamorphosen für Strauss ein persönlicher Abschied, vielleicht der Rückblick
auf den Holocaust oder „nur“ der Abschied vom Abendland allgemein?
Es ist schon auch ein wenig das Selbstverständnis von Richard Strauss gewesen, dass mit seinem eigenen Ende, seinem Tod, auch das Abendland endet. Er verstand sich durchaus als das Alpha und Omega seiner Zeit – auch zurecht, man kann seine Bedeutung für die Musik (Oper und Konzert) nicht hoch genug einschätzen, das ist überhaupt keine Frage. Er war durch und durch ein Kind des 19. Jahrhunderts, mit all seinen Ausformungen, seinem Werkverständnis, mit all seinen Strömungen und Utopien, die Wagner begonnen hat auszuformulieren und Strauss weiterentwickelt hat.

Wie bereitet man sich als Dirigent auf das Dirigat von Le Sacre du printemps vor? Was lesen Sie?
Man hat mit dem Notentext allein schon genug zu tun (lacht). So viel Sekundärliteratur ist da gar nicht mehr notwendig. Das Stück ist sehr anspruchsvoll – nicht nur für den Dirigenten, sondern auch für die Spieler*innen und Tänzer*innen – es ist ein unglaublicher Sound, den man produzieren muss, davor habe ich ziemlichen Respekt, um ehrlich zu sein, auch ein gewisses Magengrummeln. Wir spielen das Stück im Orchestergraben sitzend, was für das Orchester den größten denkbaren Stress bedeutet – ein Konzertsaal bietet, im Gegensatz zum mit Wänden begrenzten Orchestergraben, Platz für die Klangmassen. Neben den technischen Herausforderungen ist wichtig, die richtige Balance zu finden, nicht nur bezüglich der Klangqualität der einzelnen Register, sondern vor allem wegen des starken vertikalen Komponierens von Strawinsky, diese „krasse“ rhythmische Verschränkung, dieses Verlagern von Schwerpunkten, gegen Taktstriche, gegen die eigene Orientierung zu arbeiten, was sich nahezu körperlich zeigt, das äußert sich wie Herzrhythmusstörungen. Die Schwierigkeit liegt darin, nicht die Linie zu verlieren und Kontraste zu finden, die über Klangfarben zu kriegen sind. 

Angenommen, Sie hätten die Gelegenheit, mit Nijinsky und Strawinsky einen Kaffee zu trinken. Welche Fragen würden Sie ihnen stellen?
(lacht) Mir würden so viele einfallen – aber ich wäre mit Sicherheit erst einmal sprachlos. Ich würde irgendwann sicher wissen wollen, warum sie nicht mehr geschrieben, mehr gemacht haben. Man wünscht sich mehr. Ich würde von Strawinsky außerdem wissen wollen, wo seine musikalischen Geheimquellen liegen, er hat nie etwas verraten und er hat ja auch nicht nur zitiert. Ich glaube, dass er ähnlich wie Bartók sehr genau geforscht und hingehört hat. Aber wo genau kommt das Material her, ob aus Westsibirien, wie einige Musikwissenschaftler*innen vermuten – es wäre schön, das Stück ganz genau aufzublättern.

Foto: Sakher Almomen


Mei Hong Lin | Igor Strawinsky | Richard Strauss 

Le Sacre du Printemps | Metamorphosen

Zweiteiliger Tanzabend von Mei Hong Lin
Metamorphosen von Richard Strauss und Le Sacre du printemps von Igor Strawinsky
Spielstätte: Großer Saal Musiktheater



Stückinfo 

Am Vorabend des ersten Weltkrieges wurde ein Werk geboren, das nicht nur den Tanz revolutionierte. Mit Le Sacre du printemps (Das Frühlingsopfer) provozierte Igor Strawinsky einen der größten Skandale der Tanzgeschichte. Legendär ist das Fiasko der Uraufführung und ungebrochen die Faszination, die von diesem inzwischen kanonischen Werk der anbrechenden Moderne ausgeht. In seiner Rückbesinnung auf eine Welt des Primitiven bricht Strawinsky mit den Vorstellungen der Aufklärung. Er konfrontiert uns roh und brutal mit der Behauptung des regenerativen Potenzials, der Verjüngung und Erneuerung einer Gesellschaft durch ein menschliches Opfer. 

Tanzdirektorin und Choreografin Mei Hong Lin wächst seit vielen Jahren einer eigenen Interpretation dieses Meisterwerkes entgegen. In der Spielzeit 2019/2020 stellt sie sich gemeinsam mit Markus Poschner dieser Herausforderung. Richard Strauss’ Metamorphosen ergänzen Strawinskys Ballett und setzen den mit der Spielzeit 2016/2017 begonnenen Zyklus der Werke des Komponisten fort.

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