DENKT UND FÜHLET!

c_Marietta Tsoukalas
Diese Routine wird sehr geschätzt und oft verlangt; im Musik-„amte“ wird sie beansprucht. Daß Routine in der Musik überhaupt existieren und daß sie überdies zu einer vom Musiker geforderten Bedingung gemacht werden kann, beweist aber wiederum die engen Grenzen unserer Tonkunst. Routine bedeutet: Erlangung und Anwendung weniger Erfahrungen und Kunstgriffe auf alle vorkommenden Fälle. Demnach muß es eine erstaunliche Anzahl verwandter Fälle geben. Nur erträume ich mir gern eine Art Kunstausübung, bei welcher jeder Fall ein neuer, eine Ausnahme wäre! (…) Die Routine wandelt den Tempel der Kunst um in eine Fabrik. Sie zerstört das Schaffen. Denn Schaffen heißt: aus Nichts erzeugen. (…) Man möchte rufen: meidet die Routine, beginnt jedesmal, als ob ihr nie begonnen hättet, wisset nichts, sondern denkt und fühlet! Dazu ruft Ferruccio Busoni in seiner Ästhetik der Tonkunst – ein denkwürdiges Büchlein, das in keinem ordentlichen Haushalt fehlen sollte – vor gut 100 Jahren auf.

Sein monumentales Konzert für Klavier und Orchester mit Männerchor spielte er selbst als Solist mit den Berliner Philharmonikern bei der Uraufführung im Jahre 1904. Die Gattungstradition des Klavierkonzerts überlagert sich mit jener der Sinfonie. Das Klavierkonzert ist für Busonis Schaffen untypisch, sofern man dieses üb
erhaupt zu typisieren vermag. In seinen letzten Jahrzehnten bevorzugte der Komponist, Pianist, Musikdenker, Lehrer von so unterschiedlichen Schülern wie Edgar Varèse und Kurt Weill, gedämpfte Farben und schattige Formen.
Im Gegensatz dazu ist das Konzert ein knalliges, übertriebenes Stück, vollgestopft mit romantischen Hinweisen aus dem 19. Jahrhundert. Es beginnt mit einem Brahms Pasticcio, geht dann weiter zu Beethoven ähnlichen Motiven, Lisztschen Arpeggien in Wagner Orchestrierung, zarten chopinesken Zwischenspielen bis hin zu Crescendi, die man von Rossini zu kennen glaubt. Als ob dies nicht genug wäre, beschäftigt das Finale einen Männerchor, der aus Adam Oehlenschlägers Erlösungsdrama „Alladin“ intoniert, ein Hymnus an Allah. Mahlerianisch ist die Arbeit in fünf Sätzen und dauert weit über eine Stunde. „The Monster Concerto“ wie es Alex Ross nennt, ist ein Ereignis, das es sehr selten zu erleben gibt.

Bei der Uraufführung seiner vierten Sinfonie stand Brahms 1885 in Meiningen selbst am Pult - auch ein seltenes Ereignis. Es war das letzte Wort des Symphonikers Brahms - zehn Jahre vor seinem Tod - Schluss- und Höhepunkt einer Gattung, die ihm so viel Mühe gekostet hat. Man möchte rufen: ein Meisterwerk unter Meisterwerken! 

Denkt, fühlet und vor allem höret!


Norbert Trawöger
leitet die Kommunikation und Dramaturgie des BOL

Kommentare

Kommentar veröffentlichen

Beliebte Posts