Ein Bericht aus der Gegenwart in vielen Fassungen



Wenn es schon nicht möglich ist, dass wir uns in diesen Tagen sehen und hören, will ich Ihnen ein wenig berichten, was sich hinter den verschlossenen Kulissen tut. Unsere Planungen der letzten und kommenden Wochen liegen in vielen Fassungen vor. Dieses Thema ist uns als Orchester, das den Namen Anton Bruckners trägt, kein Unbekanntes. Der Genius Loci hat viele seiner Sinfonien in mehreren Fassungen vorgelegt. Die vielen Fassungen der Bruckner-Sinfonien haben unterschiedliche Beweggründe und führen immer wieder zu Diskussionen, welcher Fassung der Vorzug gegeben werden soll. Vielleicht wohnt Bruckner, der auf seinen raren Touren tausende Menschen mit seinen Orgelimprovisationen in den Bann gezogen hat, der Habitus eines Jazzmusikers inne, der in seinem kompositorischen Schaffen Ausdruck findet, in dem er heute diese und morgen eine andere Version, Verarbeitung eines Themas anbietet. Ich persönlich würde auf keine dieser Fassungen verzichten wollen. Ich denke zum Beispiel an die archaische Kühnheit der Urfassung der „Dritten“, oder an die der „Vierten“, bei der satzweise ganz andere Musik vorliegt, als in den späteren Fassungen. Bemerkenswert ist, dass Bruckner in sehr späten Lebensjahren an Umarbeitungen früher Sinfonien gearbeitet hat. Es ist ein wahres Abenteuer und für uns ein Glück, dass weitaus mehr als nur neun Sinfonien vorliegen und nicht weil die „Nullte“, letztlich eine „Annullierte“, noch mitzuzählen ist. Warum ich darüber schreibe, ist, da uns dies gerade in diesen nach außen stillen Tagen sehr beschäftigt. Das Bruckner Orchester Linz wird gemeinsam mit dem RSO Wien unter der Leitung von Markus Poschner alle Sinfonien in allen Fassungen bis 2024 aufnehmen. Die „Achte“ liegt ja schon seit letztem Jahr als Vinyl vor, die „Sechste“ ist schon im Kasten – und dieser Tage folgen, die zweite Fassung der „Vierten“ und die „Nullte“. Dass damit nicht nur eine lückenlose Aufnahme aller Sinfonien vorliegen wird, sondern hinsichtlich der Les- und Spielart Besonderes zu erwarten ist, brauche ich erst gar nicht zu behaupten. „Denn in Linz wird während der Proben offenbar minutiös an Details der Phrasierung und der dynamischen Abstufung gefeilt. Das hierzulande traditionelle, bequeme, weil wohlig konsumierbare Überlegato weicht differenzierter Artikulation. Ob Bruckner einen Bogen über ganze Takte setzt oder nicht, macht ebenso einen hörbaren Unterschied wie die feine Beachtung der angegebenen Lautstärke-Grade. So hört man mehr im großen orchestralen Gefüge, ohne dass der symphonische Erzählfluss an Konsistenz verlöre. Dafür sorgt Poschners Tempo-Dramaturgie, die ebenso überlegt und detailversessen ist: Zäsuren, Ritardandi, fließende Übergänge ergeben sich aus den rhetorischen Zusammenhängen.“, schrieb der bekannte Wiener Kritiker Wilhelm Sinkovicz über eine Aufführung der „Sechsten“ des BOL unter Markus Poschner im Wiener Musikverein in Die Presse im Februar 2020. Sinkovicz resümierte: „Bruckner aus Linz, das ist für Wien keine Petitesse“. In diesem Sinne freuen wir uns gerade in diesen schwierigen Tagen über eine vielversprechende und erfüllende Arbeit. Das Brucknerjahr 2024, der 200. Geburtstag von Anton Bruckner, naht in schnellen Schritten und ist eine wichtige Perspektive, nicht nur für uns als Bruckner Orchester, sondern auch für unser Bundesland Oberösterreich. Bruckner stand mit seinen Füßen fest auf dem Boden seiner Heimat, selbst in späten Wiener Jahren assimilierte er nicht zum Bürgertum, sondern blieb der Mann vom Land, ausgestattet mit einem Handwerk, das seinesgleichen sucht. Zum andern ragte sein hochintellektuelles, kompositorisches Denken weit über den Horizont hinaus und damit ist er seiner Zeit gehörig voraus. Er ist eine monolithische Erscheinung in der Musikgeschichte und doch so verbunden mit der Tradition. Seine Musik erzählt nicht aus einer Ich-Perspektive, wie wir dies zum Beispiel sehr stark bei den Sinfonien von Gustav Mahler erleben. Bruckner schafft einen transpersonalen Raum, in den wir eintreten können. Bruckner gehört zu uns, er gehört uns aber nicht. Er gehört der ganzen Welt und wird überall gehört. 

Auf ein baldiges Wiederhören in der Gegenwart hofft herzlich, 
Künstlerischer Direktor Bruckner Orchester Linz

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